DAS GESCHLECHT:

EIN SYSTEMATISCHER VERSUCH, DAS GESCHLECHT PHYLOGENETISCH ZU ERFASSEN

Schlüsselwörter: Mutter-Tier, Mutter-Mensch, kollektive Epistemologie, Phylum, (An)Ordnung, Art, Gattung, Eidos, Genos.

  1. Platzierung des Geschlechts. Geschlecht: ‚Gesamtheit der Merkmale, die ein Lebewesen als männlich oder weiblich bestimmen, Familie, Generation, Art, Genus‘, ahd. gislahti n. (um 1000), mhd. gesleht(e) n. ‚Geschlecht, Stamm, Abkunft, Familie, Gattung‘, mnd. geslechte, mnl. gheslachte, gheslechte, nl. geslacht steht als Kollektivum neben gleichbed. ahd. slaht n., slahta f., slehti n., mhd. slaht(e) f., slehte n.[1] Das Ziel dieses Essays besteht darin, der Kategorie Geschlecht, ihrer reichhaltigen polysemischen Vielfältigkeit, Nachdruck zu verleihen und den Diskurs des Geschlechts betreffend die Zuordnung der Arten zu dekonstruieren, um dem Geschlecht sein Wort wiederzugeben. Eine solche polysemische Vielfalt verweist auf eine Zusammensetzung von Einzelnen, die im Lauf der Zeit erhalten bleibt. Ob einzelne Organismen über ihre Fortpflanzung in Arten und Gattungen untergliedert oder die Individuen über die Blutsvererbung in Familien zusammengefasst werden und ob die organisch strukturierte Materie wegen ihres morphologischen Aussehens einer Gruppe zugeordnet wird, ist eine Frage der Ordnung der Gattungen und des Geschlechts.
  2. Das Geschlecht: eine Epistemologie für die Verwandten. Stamm und Geschlecht teilen dieselbe Bedeutung, jene der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Das Geschlecht bietet insofern eine hervorragende Gelegenheit zum Verfassen einer Epistemologie der Verwandten. Einerseits deutet es auf die Zusammenstellung von Individuen und Organismen hin und andererseits auf deren Zusammenhalt. Es ist in Gruppen nach Arten und Gattungen zusammengefasst; die Vereinigung Einzelner drückt eine unmittelbare Zugehörigkeit zum Verband der jeweiligen Art – Tiere, Menschen, Pflanzen etc. – aus.
  3. Aus der Sicht einer Epistemologie des Geschlechts führt die Infragestellung der zweiwertigen sexuellen Differenz zur Verallgemeinerung von zwei Werten. Ausgehend davon, dass das Geschlecht eine Kategorie der Bindungen und Verwandten darstellt, wird hiermit die Frage aufgeworfen, wieso die Differenz zwischen zwei Werten zu einer Kategorie der Gattung verallgemeinert wird, anstatt den Grund zu suchen, wieso sich die sexuelle Differenz in zwei Werten niederschlägt.
  4. Anordnung von Lebewesen. Einzelne/eigene Organismen werden in Arten und Gattungen klassifiziert. Sie sind einer Taxonomie zugeordnet. Genauso wie die erkannte Wirklichkeit in eine Ordnung von Gesetzen und Regeln eingefügt ist, sind die Gruppierungen von Einzelnen ebenso einem System von Teilungen und Zusammenfügungen nach Regeln und Vorschriften zugeordnet. Die Herausforderung einer Epistemologie des Geschlechts besteht darin, die Ordnung von Gattungen und Arten kritisch zu behandeln und den logischen Kern, auf welchen sie gestützt ist, offenzulegen.
  5. Die Ordnung von Arten und Gattungen ist logisch und metaphysisch errichtet. Der Unterteilung in Arten und Gattungen geht auf die Methode der Einteilung und Begriffszuweisung zurück. Die klassische Logik von Platon und Aristoteles definierte Gattung (genos) als das oberste universale Prädikat und die Art (eidos) als spezifische Differenz der Einzeldinge. Dieses logische Gefüge erlaubt nur zwei Werte, woraus sich eine baumähnliche Taxonomie ergibt: Baumsysteme sind hierarchisch und enthalten Zentren der Signifikanz. Der Baum und die Wurzel zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich von einer höheren Einheit ausgeht, einem Zentrum oder Segment, das viele imitieren. Warum soll die Differenz als eine Kategorie der Verallgemeinerung gelten?
  6. Die Frage lautet nicht, warum die sexuelle Differenz in zwei Werten auftritt, sondern warum das Geschlecht, nämlich die Gattung, in zwei Werten verallgemeinert ist. Eine kritische Annährung an die Kategorie des Geschlechts setzt eine Dekonstruktion der logischen Struktur zwischen Arten und Gattungen voraus.
  7. Die Bezüge nach innen und die Beobachtung nach innen. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt darauf, ausgehend von einer kritischen Position zur zweiwertigen logischen Struktur der Geschlechtsdifferenz, die Anordnung von Gattungen und Arten aus dem Blickwinkel der inneren Bindungen von Arten nachzuvollziehen. Hiermit wird nicht der Frage nachgegangen, was das Tierische vom Menschlichen und das Weibliche vom Männlichen unterscheidet. Vielmehr wird hier die Aufmerksamkeit auf die Endo-Beziehungen (innere Beziehungen) zwischen Arten gelenkt. Diese Operation erfolgt nicht über eine schlichte Suche nach Ähnlichkeiten, sondern mittels eines Prozesses der Beobachtung der inneren Ordnung und der wechselseitigen Beziehungen der Lebewesen untereinander: Wieviel Tierisches steckt im Menschen? Wieviel Pflanzliches im Tier? Eine Endo-Beobachtung (Blick nach innen) des Phylums der Lebewesen soll die hierarchisch systematisierte Klassifizierung von Arten und Gattungen umkehren und ein anderes Bild als das einem Baum ähnliche aufzeigen.
  8. Mutter-X: Der Faden der Innerlichkeit. Dieser Beitrag vertritt die These, dass die Mutterfigur die logische Taxonomie und Ordnung der Gliederung in Art/Gattung widerruft. Mit der Figur der Mutter wird die systematische Unterteilung in Arten und Gattungen widersprüchlich. Erstens insofern, als die Figur der Mutter schon auf das Kollektiv angewiesen ist, und zweitens, insofern die mütterliche Abstammungslinie die Verschränkungen Tier/Mensch/Pflanze/Mineral etc. aufhebt. Die Geschichte ihrer Abstammung ist nicht linear, sondern hybrid und korrelational. Der Signifikant und die Figur der Mutter dienen als Gefüge der Endo-Beziehungen.

[1] Etymologisches Wörterbuch DWDS (https://www.dwds.de/wb/Geschlecht abgerufen am 27.02.2010).

 

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