Matri Linear B

Angela Melitopoulos

April 2020

Der Ausgangspunkt dieser künstlerischen Forschung ist es, die Ausdruckskraft der Erdoberfläche als ‚sprechende Landschaft‘ bzw. als Agentur einer Aussage verstehen zu lernen; es geht um die Relation zwischen der Beobachterin, ihren kinematischen und kinetischen Werkzeugen der Visualisierung (Kartografie, Malerei) sowie auch anderen künstlerisch-wissenschaftlichen Verfahren der Bildherstellung (Archäologie, digitale Kunst) und den operativen Wissensformationen von Landschaften. Matri Linear B hat sich zum Forschungsziel gemacht, das Sehen von Landschaft selbst als Prozess der sozialen Organisation zu untersuchen.

In Matri Linear B werden vier sehr unterschiedliche Orte/Landstriche zum Laboratorium einer offenen Feldforschung, die sich über die Landschaft aus der Perspektive unterschiedlicher – auch sozialer – Technologien äußert, d.h. Beobachtung aus einer Gruppe heraus, in der auch nicht-menschliche Akteure agieren. Die tiefe Zeit der Geologie, die Bilder von Erdoberflächen als operative, visuelle Flächen sowie ihre narrativen Qualitäten beinhalten eine Erdgeschichte, in der Wissen durch andere Agenturen und neue Ordnungen der Beobachtung hergestellt werden.

Die imaginäre Vorstellung des Hominiden ist von Erdhaftigkeit geprägt, die den menschlichen Beobachter selbst zum Teil der Beobachtung der Umwelt macht. Für den Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro ist die Anthropologie eine Wissenschaft der Relation der Beobachtung, weil im  Diskurs des Anthropologen der Diskurs des ‚Nativen‘ in wechselseitigen Beziehungen steht, sie zum Gegenstand und zur Materie seiner Beobachtung macht. Die sich wandelnden Subjekt-Objekt-Ordnungen, die mit der Anthropologie zur Kritik der Moderne beitrugen, betreffen heute nicht nur die Herrschaftsräume dieses Wissens, sondern das Sein und Werden des gesamten Lebens auf der Erde. D.h. der Mensch und die Mikro- und Makro-Verhältnisse der Erde haben eine gemeinsame körperliche Funktion der Sensorik der Wahrnehmung, aber eine kulturell unterscheidbare Perspektive, die sich überkreuzt und gegenseitig beeinflusst. Die unterschiedlichen Körper sind in ihrer Fakultät wahrzunehmen, ähnlich aber sind die Wahrnehmungsperspektiven und Kulturen im Wesentlichen multi-perspektivisch.

Matri-Linearität beinhaltet einen besonderen körperlichen Vorstellungsraum, der sich hier im Projekt als ‚cine(so)matische‘ Beziehung äußern soll. Damit ist zunächst die intuitive, im künstlerischen Prozess erfassbare Strom-Dynamik einer Agentur zwischen Mensch, Umwelt und Technologie angesprochen. Diese Agentur spürt als menschliche und nicht-menschliche Assemblage die Umweltbedingungen, in denen sie agiert, und setzt sie als narrativen Prozess um.

Was lernen wir von einem derartigen Sehen unterschiedlicher Landschaften? Ist die Spur, die wir verfolgen, außerhalb oder innerhalb dieser Sensorik? Ist sie mit kulturellen und kosmischen Punkten angefüllt, die unser menschliches Gedächtnis aktivieren, wenn wir darin spazieren gehen? Ist eine magnetische und magische Eigenschaft einer Landschaft erdhaft und sind unsere Empfindungen von unserer molekularen, zellenartigen Wahrnehmung für alle Lebewesen in der gleichen Umgebung ähnlich? Wie sehen wir Landschaft, die über ihre kosmologischen Eigenschaften unser Sehen leitet? Welche Skalierung und welche Dynamiken der optischen Darstellung beinhaltet welches Wissen? Welche Zeitgeschichte und welche soziale Organisation der matri-linearen Gesellschaft kreuzen sich heute mit dem ökologischen Wissen von Land?

Ausgangspunkt des Projekts sind Landschaften in Niederösterreich – die intensive, industrielle Landwirtschaft des Weinviertels, ihre Biotope und archäologischen Fundorte.

Das Wissen der Bauern in dieser industrialisierten Landwirtschaft wird durch eine moderne Expertise der Regierung/Wissenschaft geleitet, die mit Satellitenbildern den Anbau beobachtet und mitproduziert. Die industriell organisierte Landschaft des Weinviertels ist von altersher untertunnelt. Unter der Erdoberfläche befinden sich zahlreiche Weinkeller, die ein geologisch-psychisches Potenzial haben, das die sozialen Beziehungen prägt. Die Landschaft in Niederösterreich wird heute von der industriellen Agrikultur beherrscht, die von den aktuellen Klimaveränderungen, aber auch von einer starken Landflucht betroffen ist. Die Bauernschaft hat sich in den letzten 40 Jahren sehr verringert, während die Technisierung der Landwirtschaft immer stärker wird. Im Sinne einer kosmologischen Sicht wird immer mehr Land von immer weniger Beobachtern betrachtet. Aber es werden immer mehr digitale Bildverfahren genutzt, um die Entscheidungen im Anbau europaweit zu regulieren und zu kontrollieren, insbesondere durch Satellitenbilder, aber auch durch die Robotik. Neue, alternative Lebensweisen in der Landwirtschaft in Niederösterreich betreffen nicht nur biologische Anbauverfahren, die sich alten Marktdiktaten und Regularien durch alternative Distributionsnetzwerke entziehen können, sie betreffen auch das gesamte, soziale Leben einer Gesellschaft, ihren Erbfolgen, Geschlechterverhältnissen und ihrem Wissen um die Erde und ihre Kunst. Der Bruch, der die letzten drei Generationen der Weinbauern erschüttert hat, bewirkte eine Entwertung der ökologischen Arbeit in der Landwirtschaft und eine Neubewertung ihrer Industrialisierung durch biochemische Substanzen, die alle Lebewesen in und auf der Erde molekular berühren.

Mit den Untersuchungen geologischer Bodenschichtungen in den paläolithischen und neolithischen Fundorten in Niederösterreich betreten wir den Möglichkeitsraum der Archäologie über die vertikale Folge der Betrachtung von geologischer Zeitgeschichte (Stratigrafie). Die genaueste, digitale Verortung der Stücke, die in einem kleinen Raum gefunden wurden, aber aus unterschiedlichen Zeitperioden stammen, bestimmen die Interpretationsmöglichkeiten dieser Zeitgeschichte. Zum Beispiel schließt man aus den Überresten einer Feuerstelle auf den Ort einer Küche, der Teile einer Venus-Figur zum Vorschein kommen lässt, und auf einen rituellen, schamanistischen Gebrauch. Die Revision der Interpretationen von vorgeschichtlichen Fundstücken in der neuzeitlichen Wissenschaft der Archäologie, vor allem die Interpretation von geschlechterspezifischen Rollen in der Vorgeschichte öffnet sich den kritischen, wissenschaftlichen Methoden, aber begrenzt unsere Vorstellungen methodologisch.

So begannen in den 1960er Jahren feministische Forscherinnen, die Bilder über die Rolle der Frau in der Vorgeschichte grundsätzlich zu verändern. Sie begannen, Anthropologie und Ethnologie sowie die Idee einer matriachalen Gesellschaft mit den Venusfiguren in Verbindung zu bringen. In den 90er Jahren wurden dann sowohl in der Archäologie als auch in der Anthropologie die Forschungen von Frauen weitergeführt, was zu erheblichen Veränderungen der Theorien über die Vorgeschichte führte. In ihrem Ansatz ist es die Ethnografie und Anthropologie, welche die Archäologie neu rahmen müssen, weil die sozialen Ordnungen der paläolithischen und neolithischen Kulturgeschichte durch die wenigen Fundobjekte enigmatisch bleiben.

Die Steinzeitfunde in Niederösterreich erzählen oft geglückte Fund-Geschichten von Archäologinnen, die sehr umsichtig an den Fundorten operieren mussten, weil jede Ausgrabung ein einmaliger Prozess ist, der die Richtung der Folgerungen bestimmt. Neben den Methoden der Ausgrabung, die dem Werden eines Bildes in der Kunst ähneln, interessiert mich zunächst die Debatte, wie die Funde der Venusfiguren mit einer matri-linearen Lebensorganisation im Paläolithikum, die den Vorstellungen von einer erdgebundenen, kosmologischen Kultur und einer egalitären Gesellschaft entsprechen, zusammenhängen könnten.

Ein zweites Forschungsfeld betrachtet die Funktion der Kunst in den Aborigine-Kulturen Australiens als Form einer futuristischen, indigenen Wissensproduktion, die im Mittelpunkt der kolonialen Verhandlungen steht. Das tiefe Zeitwissen der Aborigines ist in deren Geschichten und Mythen seit über 40’000 Jahren ungebrochen. Ihr Zeitbegriff ist nicht linear, ihr Umweltbewusstsein kulturell an ökologische, soziale und ökonomische Verantwortungen gebunden. Es wird mit der spezifischen Geologie der Wüstenlandschaft erzählt und heute noch als kartografische Kunst und in performativen Ritualen aktualisiert. Die Übertragung dieses alten Wissens über die letzten drei Generationen ist jedoch prekär und bedroht, ist von den Zerstörungen durch die Kolonialisierung und Kommerzialisierung auf dem Kunst- und Tourismusmarkt geprägt. Der postkoloniale Kampf um Landrechte, der seit den 1970er Jahren andauert, fokussiert auf die kulturellen Bindungen zur Landschaft und ihren Mythen, die Teil der kartografischen Kunst sind, aber vor australischen Gerichten verhandelt wird. In Matri Linear B werden besonders die Landkämpfe der Frauen zum Thema, deren kulturelle Praxis, die nur für Frauen bestimmt war, nicht in den Gerichtssälen des australischen Staates vorgetragen werden durfte.

Im Gesetz der Aborigines sind die kulturellen Übertragungen an Geheimnisträger gebunden, die innerhalb ihrer Geschlechter-Gruppen ihr mythisches, ökologisches und ökonomisches Wissen und die Verantwortung und Sorge für die Kult-Orte ‚ihrer‘ Landschaft tragen. Die Kunst, Kultur und Anthropologie werden zu konstituierenden Elementen der juristischen Verhandlungen, in denen es besonders wichtig wäre, die Subjekt-Objekt-Ordnungen der Anthropologie und der Ökologie zu verändern.

Die Vorstellungen von einer prähistorischen Landschaft, die mit dem Beginn der kolonialen Moderne zum Bild der Terra Nullius wurde – d.h. zu einer ‚natürlichen‘ Organisation von unberührter Landschaft – war für den kolonialen Beobachter die Rechtfertigung für Raub, Zerstörung und Inbesitznahme des Landes. Das Bild der Terra Nullius diente einem unkritischen, wissenschaftlichen Denken einer weißen, patriarchalen und westlichen Herkunftsgeschichte, die im 19. Jahrhundert als Rechtfertigung der Rassen-Hierarchie Genozid und Landraub mit zu verantworten hatte. Das Bild der Landschaft kristallisiert das Problem dieser Subjekt-Objekt-Ordnung, die bis heute zum zentralen Verhandlungsgegenstand in Landkämpfen zwischen modernen Nationalstaaten und ihren kolonialisierten ‚Nativen‘ ist.

In Australien liegen die wichtigsten Siedlungen der aborigenen Bevölkerungsgruppen in der Wüste der Northern Territories. Als Folge der kolonialen Gewalt und der heute noch agierenden Segregation zwischen den kolonialen Erben Australiens und den Aborigines wurde die kartografische Kunst zum Dejure-Beweis ‚traditioneller Landbesitzer‘, die ihre Bindung zur Landschaft und zu deren kultureller Bedeutung für das Land ins Zentrum ihrer postkolonialen Kämpfe stellten. Staatlich geförderte Kunstzentren, die im Besitz der aborigenen Land Councils sind, wurden in vielen Siedlungen in den Northern Territories gegründet.

Der Widerstand gegen koloniale Bevormundung und Landraub nahm eine rasante Entwicklung in der kartografischen Malerei der Landschaft, weil es einerseits das Wissen im kartografischen Bild der Landschaft für die Anthropologie festhält, aber auch zum juristischen Beweisstück wurde, durch das nicht nur Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kult-Ort durch die Geschichten belegt werden konnte, sondern auch Besitzverhältnisse geregelt werden, die zudem auch Bergbaurechte betreffen.

Ein drittes Forschungsfeld befasst sich mit den halbnomadischen, halbautonomen Gesellschaften im Zomia-Bergland in Südostasien zwischen China und Indien, wohin sich matri-lineare Gesellschaften zurückgezogen und sich über Jahrhunderte der nationalstaatlichen Organisation entzogen haben. Die Flucht in unwegsame Gebirge erlaubte es, sich von den Vereinnahmungen des patriarchalen Nationalstaates zu entziehen und Sklaverei und Kriegsherrschaft zu entkommen. Heute erleiden die bisher sehr gut funktionierenden matri-linearen Gesellschaften die Dynamiken eines Tourismus, der das Begehren nach Alterität patriarchaler Gesellschaften zeigt.

Das letzte Feld im Projekt betrifft die Landschaft meiner Kindheit im bayerischen Voralpenland, dem Geburtsort meiner Mutter und Großmutter. Dort wird Landschaft zu einem Ort für alle, die sich seiner Magie hingeben. Der Endpunkt der Forschung liegt in seinen affektiven Epiphanien, die diesem Projekt als zur Inspiration gedient haben.

Matri Linear B folgt dem narrativen Potenzial nicht-linearer und autopoetischer Erzählformen. Die horizontale Bewegung auf der Erde wird zum Filmnarrativ einer Folgerung, einer Reihung von Ereignissen, die mit unterschiedlichen Wissensformationen durchkreuzt werden.

Im weitesten Sinne geht es um das politische Anliegen, den Möglichkeitsraum einer Vorstellung zu befeuern, in dem eine andere soziale Wertigkeit möglich wurde, die, so die Wissenschaftshistorikerin Heide Goettner-Abendroth‚ die Mutter als Prototyp gesehen hat und die „mütterlichen Werte von Nähren, Pflegen, Gegenseitigkeit, Balance, Friedenssicherung in das Zentrum einer egalitären und herrschaftsfreien Gesellschaft stellte“.

Bisher wurden die Feldforschungen in Niederösterreich und Australien abgeschlossen. Die beiden anderen Orte sollen im Sommer und Frühherbst 2020 besucht werden.

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